Kann man solche Eindrücke überhaupt in Worte fassen? Wir alle drei sind überwältigt von den Eindrücken, Emotionen und Szenen, die wir heute erleben durften.
Schon der Morgen, den wir noch im Spital mit praktischen Übungen verbrachten, kann man nicht mit einem normalen Hüftsonokurs, wie wir sie in der Schweiz machen vergleichen. Neben den vielen Neugeborenen, die wieder in der Nacht auf die Welt kamen, kommen plötzlich von überall her grosse Kinder mit Pavlikbandagen, Hinken unklarer Ätiologie und irgendwelchen sonstigen speziellen Geschichten. So sind 3 Kinder älter als 12 Monate mit Pavlikbandagen im Traumazentrum in UB behandelt worden, anamnestisch auf Grund fehlender Hüftkopfkernen mit 6 Monaten oder asymmetrischen Hüftkopfkernen aber keines aus tatsächlichen Indikationen. Hier besteht weiterhin grosser Aufklärungsbedarf der mongolischen Orthopäden. Wie berührend war doch das Strahlen auf den Gesichtern der Mütter, wenn wir ihnen sagen, dass sie die Holzknebel zwischen den Füssen der Kinder weglassen dürfen und die Kinder endlich laufen lernen können. Bei den skeptischen Mütter sagt Bayalag ihren berühmten Spruch: „the swiss doctor will adopt your child if he will be disabled later“ nach ihr funktioniere das immer. Wir hoffen, wir können sie genügend überzeugen und die Kinder werden nicht unnötig weiteren Röntgenstrahlen (sie werden hier ohne Gonadenschutz geröntgt) ausgesetzt. Ein Kind hatte mit 15 Monaten tatsächlich schon 8 Röntgen ohne Schutz des Unterleibes, den Grund können wir nicht nachvollziehen.
Leider können wir aber nicht allen so gute Nachrichten überbringen, ein siebenjähriges Mädchen mit vollständiger Hüftkopfnekrose unklarer Aetiologie werden wir am Freitag Dr. Winiker und seinem Team vorstellen müssen. Einer anderen Grossmutter müsssen wir erklären, dass wir das Hinken ihres Enkels nicht heilen können, da es sich um eine Cerebralparese handelt und hoffen, sie können hier mit Physiotherapie das Fortschreiten der Kontrakturen und Spasmen verlangsamen. Aber wie geht man in eine regelmässige Physiotherapie, wenn man ein paar Reitstunden weg vom Zentrum wohnt?
Auch für uns ist es eine neue Erfahrung sogar bei einem 3 jährigen Mädchen noch die Hüfte zu schallen, aber es funktioniert. Die Teilnehmer haben über die 3 Tage grosse Fortschritte gemacht und wir hoffen, dass sie nach unserer Abreise mit dem Screenen zurecht kommen. Zum Abschluss des Kurses gibt es noch ein Gruppenfoto mit dem Chef, Dr. Bimba und allen 19 Teilnehmer.
Nach einem kurzen Picknick geht es los auf den von Davaa und ihren Eltern so lieb organisierten Ausflug. Neben unserem Grüppchen kommen auch heute Dr.Bimba, der Finanzchef des Spitals sowie 4 weitere Ärztinnen mit. Bei der Autofahrt mit dem Vater von Davaa, dem lokalen Tierarzt, erfahren wir, dass zu den 3800 Einwohnern des Heimatdorfes Davaa’s 218’000 Vieh gehört, welches wie überall frei in den unglaublichen Weiten weidet. Davon sind es 300 Kamele, 10’000 Pferde, 8’000 Yak/Kühe, 43’000 Schafe, der Rest sind Kashmirziegen. Neben diesem Nutzvieh gibt es noch 600 Hunde und ca. 300 Katzen, welche aber nicht tierärztlich versorgt werden.
Im kleinen regionalen Spital bzw. Gesundheitszentrum, welches von Davaa’s Mutter seit 28 Jahren geführt wird, werden wir zu einem Kaffee und überraschend guten, pastellfarbenen Kuchen eingeladen.
Als einzige Ärztin zusammen mit einer Hebamme und einer Krankenschwester versorgt sie die 3800 Einwohner, macht Geburten, Impfungen, Notfälle. Sie haben hier tatsächlich sogar eine Reanimationseinheit für Neugeborene und einen Inkubator, etwas was wir in Bayan-Ulgji sogar im General Hospital vermisst haben. Nach einem kurzen Katz und Mausspiel zwischen unseren Ambulanzfahrzeugen und dem Kameltreiber, der extra die 10km von der Wüste Gobi in unsere Nähe reitet, dürfen wir unser erstes Highlight dieses unvergesslichen Tages erleben. Bald realisieren wir auch, wieso wir etwas länger suchen mussten: dieser wettergegerbte, traditionell gekleidete Kameltreiber galoppiert mit seinen beiden Kamelen so schnell über die Hügel der Steppe, dass unsere chinesischen und russischen Geländewagen auf den sandigen Pfaden keine Chance haben und ausnahmsweise können sie nicht mit Handys kommunizieren. Wir haben kein Problem, sind wir doch schon hier einmal mehr fasziniert von der unbeschreiblich schönen, in allen Grün- und Brauntönen leuchtenden Landschaft mit den 1000enden von Viehherden.
Wir erfahren, dass der Kameltreiber den zwei mitgebrachten Kamelen extra den Sommerhaarschnitt noch nicht verpasst hat, damit wir diese wärmende flauschige Wolle spüren können, wenn wir im wogenden Schritt unsere Runden reiten. Er besitzt 80 Kamele, diese werden va. für die Wolle, für Airag (hier also vergorene Kamelmilch, was besonders gesund sein soll) und für die Umzüge der nomadischen Bevölkerung gebraucht. Wie ein Lohnunternehmer, leiht er seine Kamele aus, wenn die Nomaden ihre 4-6mal im Jahr alle Jurten abbrechen, um an einem neuen Fleck gutes Weideland für ihre Tiere zu finden, im Winter manchmal auch um statt auf Pferden die Herden einzutreiben, da es zwischen den Höckern auf dieser dicken Wolle schön warm ist. Sogar Reto setzt sich nach anfänglicher Skepsis auf diese eindrücklichen Tiere und kann nur noch seinen Lieblingsspruch: „isch das nöd surreal“ von oben runter rufen.
Aber ich muss ihm im Verlauf des Nachmittags und Abends rechtgeben. Es ist tatsächlich fast surreal, wie hier die 3 kleinen schweizer Kinderärzte wie Fürsten empfangen und verwöhnt werden, was für ein Glück wir haben auf so nette Leute zu treffen und in diese für uns unglaubliche Natur gefahren/geritten werden und das alles erst noch bei besten Wetterverhältnissen. Nachdem der Kameltreiber mit seinen Tieren in einem unglaublichen Tempo über die Hügel verschwunden ist, geht unser Ausflug weiter zu 3 Jurten in the middle of nowhere.
Mit den Ambulanzen geht es quer Feld ein durch kleine Flüsse und Bäche, bis sie feinsäuberlich in Reih und Glied nebeneinander parkiert werden. In der Jurte werden wir mit frischem Joghurt und mongolischem Käse empfangen. Es gilt klare Sitzordnung einzuhalten. Das Oberhaupt der Familie sitzt gegenüber der Türe, links daneben unser Gastgeber Davaa’s Vater und rechts Dogi und Ogi (was ich später erläutern will). Mein Vorteil ist, dass ich zuerst zuschauen kann wie man sich den angebotenen Schnupftabak weiterzureichen hat, um dann nicht die selben Fehler wie Reto zu machen;-)). Trotzdem wird es für mich als Linkshänderin zu einer motorischen Herausforderung , die sowohl vom Oberhaupt wie auch vom Gastgeber herumgereichten Fläschchen korrekt entgegenzunehmen und auch wieder weiterzugeben.
Bei schönstem Abendlicht wird draussen vorgeführt wie man einen richtiges mongolisches Grillgericht bereitet. Im nur aus Mist bestehendem Feuer werden gesammelte Steine heiss gemacht. In eine Milchbränte (früher aus Leder bereitete Tasche) werden schichtweise wilde Steppenzwiebeln, Kartoffeln, Karotten, grob zerkleinerte Ziege und dann eben diese heissen Steine getan. Ohne zusätzlichem Wasser wird dann der hermetisch geschlossene Topf, wie ein Dampfkochtopf auf das Dung-Feuer gestellt, um weiter zu schmoren.
In der Zwischenzeit können wir uns an der in immer schönerem Licht leuchtenden Landschaft kaum satt sehen, während sich unsere Gastfreunde in den mitgebrachten Campingstühlen und auf den saftigen Matten wahrscheinlich lustig machen, wie wir sogar den schön gestapelten Misthaufen und die hier wie Spatzen herumfliegenden Alpenkrähen (die gemäss unserem Ornithologen in der Schweiz ausgestorben sind aber eigentlich aussehen wie hundsgewöhnliche Krähen einfach mit rotem Schnabel…) fotografieren. Da wir uns zu weit entfernen, müssen sie uns mit der Ambulanzsirene zurückrufen als das Essen bereit steht. Zum Glück merkt es auch Petrign, der wiedermal seinen Bewegungsdrang befriedigen musste und quer über die Matten joggt. Die Gastfamilie bietet ihm sofort einen Sommerjob als Rindereintreiber an, da müsse man auch die ganze Zeit herumjoggen.
Obwohl es etwas „böckelet“ und es für uns eher ungewohnt ist ganze Femur oder Humeri abzunagen, schmeckt der mongolische Grill und v.a. auch die Fleischbrühe, die in diesem Schmoressen entstanden ist, gut. Der leichte Stallgeschmack kommt ev. daher, dass die Steine ja direkt aus diesem Dung-Feuer genommen werden und mit dem Essen zusammen im Topf sind. Bevor man anfängt, werden die heissen Steine als Glücksritual von der einen Hand in die andere geworfen, bis sie abgekühlt sind.
Während unsere Begleiter bei plötzlich aufziehenden Wolken zum Kartenspiel in die Jurte gehen, geniessen wir weiter die Landschaft und schauen erstaunt zu, wie das Oberhaupt mit seinem Pferd die Ziegenherde zusammentreibt und dann auf für uns unerklärliche Weise es schafft die Jungen von den alten Ziegen zu trennen. Er scheut die Herde mit der Urga, einer sehr langen Peitsche/Lasso, auf und vertreibt die Jungen dann in die entgegengesetzte Richtung wie die Alten. Die Kleinen meckern erbärmlich aber nach einer halben Stunde kommt er plötzlich von weit her mit einer kleinen erwachsenen Ziegenherde, die anscheinend keine milchgebenden Muttertiere mehr drin hat. Dieses aufwendige Prozedere wird zweimal am Tag gemacht, damit er dann die gefüllten Euter der Mutterziegen melken kann. Erst dann dürfen die Kleinen wieder zur Mutter und bekommen noch die restliche Milch.
Die Regenwolken verziehen sich, bevor sie sich entleeren und unsere Gastgeber laden uns zum xten obligatorischen Wodka ein. Für meine männlichen Begleiter ist es schwierig sich dagegen zu wehren. Mit romantischem Abendrot im Hintergrund stimmt die ganze Gruppe plötzlich ein schönes mongolisches Lied ein und erwartet, dass wir uns mit einem schweizer Lied revanchieren. Wir scheinen ausser den Oberschunkel-Lieder wie Buurebüebli kein gemeinsames zu kennen, so dass Petrign ein italienisches Alpenlied und ich ein Kinderschlaflied vorsinge. Man hat das Gefühl, dass nicht nur wir diesen wunderbaren Abend geniessen und es wird schwierig Abschied zu nehmen als die Sonne untergeht und es sofort empfindlich kalt wird.
Da Davaa bei ihren Eltern übernachten geht, fahren wir wieder mit den Ambulanzen zurück in die Stadt. Die Tatsache ein Blaulicht und Sirene auf dem Dach zu haben wird schamlos ausgenutzt. Laufen die Ziegen wahllos auf dem Weg oder fährt zurück in der Stadt ein Auto zu langsam wird sie angestellt. Ich werde zusammen mit dem Chefarzt und dem Finanzdirektor in die eine Ambulanz gesetzt und Dr. Bimba entpuppt sich als ziemlich gut englisch sprechend und kann mir noch mehr über sich und sein Team mit bewunderswertem Teamspirit erzählen.
Zurück im Hotel haben wir das Bedürfnis diesen alles toppenden Tag noch ausklingen zu lassen und werden fast sentimental, wenn wir daran denken am morgigen Tag zurück ins lärmende und stickige UB zu fahren.
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